Das Klarinettenregister als Hauptklangfarbe im sinfonischen Blasorchester
TEIL 2
Mannigfaltige Aspekte über die vielseitige Verwendung des Klarinettenregisters, inspiriert durch das Online-Seminar mit Prof. Alex Schillings in der BDB-Online-Akademie. Zusammengestellt von Stefan Kollmann.
Nachdem im ersten Teil (blasmusik Nr. 2, Februar 2022) der Fokus auf die historischen Hintergründe, der Entstehung und Entwicklung des Klarinettenregisters als Hauptklangfarbe im Blasorchester gerichtet war, soll in dieser Ausgabe zunächst auf die Problematik der geschickten, optimalen Instrumentation und des klugen Einsatzes des Klarinettenregisters im Blasorchester eingegangen werden. Zusätzlich sollen Antworten gefunden werden auf folgende Fragen:
- Welche Literatur ist für die Entwicklung des Klarinettenregisters im Blasorchester hilfreich?
- Was kann in den jeweiligen Kompositionen umgestellt oder verbessert werden, um die wichtige Klangfarbenvielfalt der Klarinetten hervorzuheben oder zu schützen?
Hierzu sollen einige Beispiele aus der einschlägigen Literatur für sinfonische Blasorchester herangezogen werden.
Overture to a New Age – Jan de Haan
Ein besonders berühmtes und auch gelungenes Beispiel ist die Partitur des Werkes „Overture to a New Age“ aus dem Jahr 1995 und man erkennt ziemlich schnell: Hier komponiert jemand, der Kenntnisse hat vom sogenannten „weichen und scharfen Holz“, von den günstigsten Klangverbindungen zwischen Flöten, Klarinetten und Saxophonen, und jemand, der die vielen Klangmöglichkeiten dieser Instrumente wirklich geschickt einzusetzen versteht. Diese Feststellung bestätigt sich durch genauere Analyse z. B. in den Takten 14–19.
Man erkennt die geschickte Instrumentation – und in unserem Fall besonders für die Klarinetten – daran, dass der Komponist Jan de Haan die Klarinetten 1, 2 und 3 dreistimmig in eher höherer Lage Richtung „Clarinlage“ gesetzt hat. In dieser Tonlage hat die Klarinette (je nach Spieler:in) normalerweise weniger Problemtöne, wie in der letzten Ausgabe bereits besprochen wurde.
Zusätzlich hat man mit dieser Instrumentation hier die Möglichkeit, Instrumente, die zum sogenannten „weichen“ bzw. „scharfen Holz“ gehören, miteinander zu kombinieren. Eine gute Mischung ergibt sich mit 1. und 2. Flöte, 1. Klarinette und den Saxophonen im „weichen Holz“, die man dann sehr gut individuell mischen kann mit Es-Klarinette und Piccoloflöte im „scharfen Holz“. Je nach Gusto kann man hier den Klang des „weichen Holzes“ eben durch die Kombination mit dem „scharfen Holz“ (je nach Orchester und Besetzung) variieren. Es wäre noch eine Überlegung wert, ob die Es-Klarinette, sofern vorhanden, klanglich eher mit den Klarinetten oder mit den Flöten verschmelzen soll. Aber das ist sicherlich auch eine Geschmacksfrage oder bestimmten Umständen geschuldet.
Darüber hinaus – und jetzt kommt ein sehr wichtiger Aspekt – sind die Saxophone nicht unisono mit den Klarinettenstimmen geführt, sondern liegen stimmlich darunter, d. h. die Saxophonstimmen (1. und 2. Altsaxophon, Tenorsaxophon) fungieren hier nach den drei etwas höheren Klarinettenstimmen quasi als 4., 5. und 6. Stimme. Das klingt fantastisch, weil hierdurch so etwas wie eine Klangpyramide unter den Einzelblattinstrumenten entsteht. So ergibt sich ein sehr gelungener Effekt, bei dem die Klarinetten durch den Klang (im schlimmsten Fall durch tonliche Verdoppelungen) der Saxophone nicht beeinträchtigt oder sogar gestört, sondern viel mehr unterstützt werden. Im Grunde genommen folgt dies einem einfachen Prinzip: Die Klarinetten werden in der Tonhöhe etwas nach oben in das „Clarin-Register“ geschoben und die darunter instrumentierten Saxophone unterstützen einen sinnvollen Aufbau im Klangspektrum. Genau diese Vorgehensweise findet man viel zu selten, insbesondere in den neueren Kompositionen. Leider wird diese o. e. Klangpyramide auch bei vielen Werken in den unteren Schwierigkeitsgraden (meistens bei denen aus den USA) viel weiter unten angesetzt, wodurch dann häufig die Saxophone den Klang bzw. die Töne der Klarinetten einfach nur verdoppeln. Zusätzlich soll dann oft noch ein dreistimmiger Trompetensatz in der gleichen Lage dieselben Töne spielen; wenn dabei dann noch als dynamische Anweisung ein Forte notiert ist, sind die Klarinetten kaum oder nicht mehr zu hören. Die logische Konsequenz daraus ist dann allzu oft nur noch Frustration, da die Klarinetten übertönt werden und nicht mehr hörbar sind. Das muss nicht und darf nicht sein. Die Klangschönheit der Klarinetten kann und muss durch gut gewählte Literatur geschützt und gestärkt werden. In der Komposition von Jan de Haan gibt es jedenfalls viele solcher Möglichkeiten der Klangmischungen und der Klangfarben-Zusammenstellungen, weshalb sie zu Recht zu den beliebtesten Werken für sinfonische Blasorchester zählt.
Jericho – Bert Appermont
Ein weiteres sehr schönes Beispiel für diese bedeutsamen Klangideen ist die Partitur des belgischen Komponisten Bert Appermont zu dem Werk „Jericho“. Einer seiner wichtigsten Lehrer war seinerzeit Jan van der Roost, wobei Bert Appermont mittlerweile selbst zu den bekanntesten und meist gespielten Komponisten im Bereich der sinfonischen Bläsermusik Europas zählt. Auch in diesem Beispiel, ab Takt 86–89, sind die B-Klarinetten dreistimmig, – wie oben beschrieben – in der Clarin-Lage notiert, zumindest die 1. und 2. Klarinettenstimme. Sie werden unterstützt von der Es-Klarinette, den Flöten und Oboen (Englischhornspieler:in wechselt vorher zur Oboe).
Die Saxophone sollen die eben beschriebene Holzbläsergruppe ebenfalls unterstützen, wobei man dann aber über das notierte „Marcato“, man sagt auch Dachspitze dazu, nachdenken darf oder muss. Zuviel Marcato-Artikulation (d. h. zu viel „Zunge am Blatt“) in den Saxophonen könnte hier nämlich die Legatolinie der Klarinetten etc. stören. Da gilt es sicherlich, trotz der ein oder anderen Geschmacksfrage immer aufmerksam zu bleiben. Ab Takt 88 kommt die Piccoloflöte hinzu, wodurch jetzt sogar ein dreistimmiger Flötensatz entsteht. Im Grunde genommen geht es immer um die günstigste oder auch kräftigste Verbindung bzw. Registrierung zwischen dem sog. scharfen und weichen Holz, die ja auch die Gesamtklangfarbe enorm beeinflussen kann. Unter anderem in den Niederlanden spricht man diesbezüglich auch immer sehr gerne von dem sog. „Flo-Bo-Effekt“, der bestmöglichen Verbindung zwischen den Flöten und den Oboen, um diese kräftige Verbindung in den Holzbläsern und somit auch die ideale Unterstützung für das Klarinettenregister herstellen zu können. Zudem hat man dadurch eine Fülle von Kombinationsmöglichkeiten und Verschmelzungen von Klangfarben, Artikulationen oder sogar Mischartikulationen. Außerdem führt dies wahrscheinlich auch zu einer besseren Intonation, da die Instrumente in diesen optimaleren Tonlagen und Registrierungen besser auszubalancieren sind.
Puszta – Jan van der Roost
Das nächste Kompositionsbeispiel „Puszta“ stammt von dem mittlerweile weltbekannten Komponisten Jan van der Roost. Er gilt in der Blasorchesterszene sicherlich als einer der Top-Komponisten, der immer absolut bewusst und auch gezielt instrumentiert.
Befassen wir uns mit dem 1. Satz ab Teil A. Es lohnt sich, hier die geschickte Kombination der Saxophone mit den Klarinetten genauer zu betrachten. Eine besondere Klangfarbenergänzung für die Klarinetten ist in diesem Fall das Englischhorn. Ab Teil A schreibt er die Klarinetten unisono in einer schwierigen Lage, aber eben alle Klarinettenstimmen, 1.–3. Stimme, was in diesem Fall die Melodiestimme abbildet. Die zweite Stimme übernimmt das Altsax., die 3. Stimme übernimmt das Tenorsax. Auch hier ist wieder der Aufbau wie bei der oben erwähnten Klangpyramide vorgesehen und somit für den Gesamtklang, die Balance, das Hervorheben und Unterstützen des Klarinettenregisters ein enorm wichtiger Aspekt.
Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch der unterstützende Einsatz der Altklarinette. Sehr selten sind Altklarinetten überhaupt besetzt, allerdings sind sie in fast jeder Partitur zu finden. Es macht Sinn, sich hier die Altklarinettenstimme genauer zu betrachten, da man immer wieder interessante, mitunter auch kammermusikalische Stellen findet, wobei auch der positive Einfluss auf den Klarinettenklang im Satz sehr gut wahrgenommen werden kann. Wenn man keine Altklarinette besetzt hat, könnte man das vielleicht mit einer zweiten Bassklarinette oder mit Spieler:innen der 2. oder 3. Klarinettenstimme ausgleichen. Eine Überprüfung der Stimme bzw. Anpassung ist jedenfalls immer anzuraten.
Bevor weitere Beispiele betrachtet werden, die die Klangvielfalt des Klarinettenregisters auch herausstellen, soll ein zusätzlicher Aspekt zu der eingangs gestellten Frage über die Möglichkeiten der Umstellungen oder Verbesserungen in den Partituren beleuchtet werden.
Das Vibrato als Mittel zur Klangverschönerung
Zunächst einmal ist zu bemerken, dass nicht alle Holzblasinstrumente gleichermaßen gut ein Vibrato umsetzen können. So spielt der Klarinettensatz grundsätzlich im Gesamten – anders als beim solistischen Einsatz bei z. B. einem Musikstück im Klezmer Stil – eigentlich nicht im Vibrato. Dabei stellt sich die Frage, ob ein geschmackvoll gespieltes Vibrato anderer Instrumente den Klang des wichtigen Klarinettenregisters als Hauptklangfarbe des Orchesters positiv beeinflussen kann. Ist es möglich, mithilfe der Instrumente, die normalerweise fast immer ein Vibrato spielen (Flöten, Oboen, Saxophone …) den Klarinettenklang noch effektvoller zu bereichern? Besonders die Saxophone können einen sehr deutlichen und prominenten Klang mit Vibrato erzeugen, wenn es darum geht, die Klarinettenklangfarbe dadurch zu bereichern, zu unterstützen und zu verschönern. Bedeutsam dabei ist, den Saxophonklang hinter den Klang der Klarinettenfamilie zu positionieren. Das bedeutet, man versucht bei gleichen oder ähnlichen Passagen in der Partitur den Gesamtklang so zu organisieren, dass der Saxophonklang dynamisch und vibrierend in den Klang der Klarinetten eingefügt werden kann. Wird die Tonlage zu hoch für die Saxophongruppe, könnten die Flöten (weiches Holz) diese Unterstützungsfunktion mit Dynamik und Vibrato übernehmen.
Eine weitere Möglichkeit, die Klarinettenfamilie als Hauptklangfarbe zu unterstützen, ist mithilfe der Doppelrohrinstrumente. In gut instrumentierten Werken werden die Doppelrohrinstrumente sogar als Familie mitunter fünfstimmig orchestriert, d. h. 1. und 2. Oboe, Englischhorn, 1. und 2. Fagott. Der Effekt ist ein Klang, der sehr stark an ein Orgelregister erinnert. Jetzt sollte man diese Familie der Doppelrohrinstrumente mit ihrem Klang und der Möglichkeit des Vibratospiels, dynamisch und eben mit geschmackvollem Vibrato – ähnlich wie oben beschrieben bei den Saxophonen und Flöten – in den Klang des Klarinettenregisters einfügen. Ein berühmtes Orchester, bei dem man immer wieder diese Vorgehensweise hören kann, ist beispielsweise das Orchester der „Belgian Guides“ (Groot Harmonieorkest van de Gidsen). Wenn man sogenannte „Transkriptionen“ von Werken für Sinfonieorchester spielt, braucht man genau diese Klangvorstellung, diese Klangkonzepte, da ohne sie die notwendige Interpretationsqualität nicht erreicht werden kann!
Durch den Einsatz dieser Methoden, am Klang zu arbeiten, kreiert man neue Klangperspektiven, die sogar zu einem sehr transparenten, tragfähigen, überzeugenden Klang im so wichtigen Klarinettenregister führen können. Das Motto sollte lauten: Instrumente, die Vibrato gut erzeugen können (Saxophone, Flöten und Doppelrohrinstrumente), stehen alle im Dienst für unsere Hauptklangfarbe, die Klarinetten!
Das Online-Seminar „Das Klarinettenregister in der Krise“ mit Prof. Alex Schillings ist abrufbar auf Youtube unter: https://www.youtube.com/watch?v=BrSO3Y1Z7Rk
blasmusik Ausgabe 03-2022 | Autor: Stefan Kollmann
Zum digitalen Kiosk geht es hier: epaper.blasmusix.de